Zum Inhalt springen

Your web browser is out of date. Update your browser for more security, speed and the best experience on this site.

Update your browser

TODO: Cookie-Banner

Das Rätsel der Schönheit

31.05.2024

In Die Brüder Karamasow vermittelt Dostojewski kraftvoll die menschliche Natur als eine Suche nach Ganzheit, die ohne Gott chaotisch unvollständig bleibt, da sie versucht, sich auf falsche Weise zu erfüllen. Es ist ein Eingeständnis leidenschaftlicher, erotischer Sehnsucht.

Das Erotische ist sowohl ein metaphysisches als auch ein physisches Phänomen. Im Symposion von Platon wird es als Vermittler dargestellt, der den Körper zu einer höheren Transzendenz hinzieht. Das Erotische ist ein „großer Geist, Sokrates; denn das Geistige steht zwischen dem Göttlichen und dem Sterblichen.“ „Welche Kraft hat es?“, fragte ich. „Die Gabe der Menschen zu deuten und zu den Göttern hinüberzubringen“ (Symposion, 106). Es ist ein fundamentales spirituelles Verlangen, das uns zu dem hinzieht, was wir als schön empfinden. Dabei handelt es sich jedoch nicht nur um physische oder ästhetische Schönheit, sondern auch um eine moralische und spirituelle.

Und laut Dostojewski ist diese Schönheit ein Rätsel. Wie Dmitri in Die Brüder Karamasow gesteht: „Die Schönheit - das ist eine unheimlich und furchtbare Sache! Unheimlich, weil sie unbestimmbar ist, man kann sie nicht bestimmen, weil Gott uns nichts als Rätsel aufgegeben hat" (108).

Betrachten wir die Pornografie: Besteht sie nicht aus schönen Körpern, die auf dem Bildschirm für den Zweck erotischen Vergnügens dargestellt werden? Wo liegt das Problem, wenn alle Beteiligten aus freiem Willen handeln? Oder vielleicht ist die tiefere Schönheit in der langfristigen Treue zu finden – in einer Bundestreue zu einer einzigen Person fürs Leben? Diese zwei Sehnsüchte, diese zwei Ansichten von Schönheit, kämpfen in uns. Wir mögen davon überzeugt sein, dass eine Form der Schönheit tiefer und besser ist, doch die andere bleibt verführerisch.

Dieser innere Kampf tobt in uns. Und er spiegelt das Dilemma des Erotischen wider.

Bekenntnis eines leidenschaftlichen Herzens

In die Brüder Karamasow gesteht der älteste Bruder, Dmitri, seinem jüngeren Bruder Aljoscha den Konflikt der Verlangens, der in seiner Seele herrscht. Dmitri ist ein erotischer Mann, der sich zu den Schönen hingezogen fühlt, aber auch kämpferisch und gewalttätig. Er ist bereit, für das, was er will, zu kämpfen. Er ist bereit, andere zu beschämen und zu demütigen, um seinen eigenen Status und seine Ehre zu erhöhen, "Weil ich, wenn ich schon in den Abgrund fliege, dann geradeaus, kopfüber fliege, sogar mit einer gewissen Genugtuung, dass ich in einer so fatalen Stellung stürze und das für mein Teil schön finde" (Die Brüder Karamasow, 175).

Er beschreibt ihn als den zwischen Madonna und Sodom. Auf der einen Seite sehnt er sich nach der Reinheit der Madonna, einem Bild der Keuschheit und der demütigen Liebe, wird aber immer wieder von der verdrehten erotischen Schönheit Sodoms angezogen, "Schönheit! Ich kann mich nicht damit abfinden, daß mancher sogar hochherzige und feinsinnige Mensch mit dem Ideal der Madonna beginnt und mit dem Ideal Sodoms endet. Und noch unheimlicher ist es, wenn jemand mit dem Ideal Sodoms im Herzen, auch das Ideal der Madonna gelten läßt, und wenn sein Herz für dieses Ideal entflammt ist, wahr und wahrhaftig entflammt ist, wie in seinen jungen schuldlosen Jahren" (Die Brüder Karamasow, 176).

Das ist die Geschichte in der Genesis, als die Männer der Stadt sexuelle Beziehungen mit seinen engelhaften Gästen haben wollen. Lot bietet stattdessen seine Töchter an, die ihn später, nach der Zerstörung der Stadt, in seiner Trunkenheit verführen, damit er sie schwängern kann. Das Verlangen ist komplex, unglaublich mächtig und kann uns auch täuschen. 

Auch Dimitris Geschichte ist tragisch. Er lebt in einer sexuellen Rivalität mit seinem eigenen Vater um dieselbe Frau, Gruschenka. Er weiß, dass er seine Verlobte, Katja, schändlich behandelt hat. Aber er kann seine erotische Leidenschaft für diese russische Schönheit nicht abschütteln, und sein Vater auch nicht. Diese Rivalität treibt ihn so sehr in den Wahnsinn, dass er in Erwägung zieht, seinen eigenen Vater zu ermorden. 

Am Höhepunkt des Buches steht Dmitri, der mit einem Messer im Dunkeln steht und bereit ist, seine Rache zu vollziehen, "Der persönliche Ekel steigerte sich und wurde unerträglich. Mitja wußte nicht mehr, was er tat, und riß plötzlich den messingnen Stößel aus der Tasche . . . " (Die Brüder Karamasow, 176).

Doch trotz seines Wunsches, einen Vatermord zu begehen, wird Dmitri fälschlicherweise beschuldigt und die zweite Hälfte des Romans handelt von seiner Inhaftierung, seinem Leiden und seinem Prozess. Er gesteht, dass er seinen Vater töten wollte, beteuert aber, dass er es nicht wirklich getan hat. 

ein Werk von @gegenstalt
In the Dark von @gegengestalt

Eine verhöhnende Männlichkeit

Die erotische Leidenschaft für Schönheit kann sich auch in eine Form von toxischer Männlichkeit verwandeln, die nach Dominanz strebt, wie ein Stier, der sich paaren will und versucht, die Konkurrenz auszuschalten. Es ist das, was Nietzsche als den unersättlichen dionysischen Willen zur Macht beschreibt, den Gott des Chaos an der Wurzel des Lebens.

Ich erinnere mich, dass ich eines Abends auf einer Party im Freien war. Es war schon sehr spät. Ein paar von uns saßen um ein Feuer herum, betrunken und bekifft. Ein Mann dort war älter und viel größer als ich. Er war nicht nur offensichtlich betrunken und high, sondern auch sehr gelangweilt. Ich erinnere mich nicht mehr an seinen Namen und er lebte in einer anderen Stadt, aber er und seine Freunde waren für ihre Gewalttätigkeit bekannt. Sie suchten die gewalttätige Konfrontation nur aus Spaß an der Freude und dem Nervenkitzel heraus. 

Er trat gegen das Feuer und die Funken flogen überall hin, sodass wir erschrocken aufstanden. Ein Stück Holz landete auf meiner Hand und verbrannte mich. Ich schrie ihn aus Protest an und das war genau die Reaktion, auf die er gewartet hatte. Im nächsten Moment war er direkt in meinem Gesicht und verspottete mich. Er war eindeutig auf einen Kampf aus. 

In dieser Situation war es wie in Thomas Hobbes' Beschreibung, wo er sagt, dass, wenn sie sich selbst überlassen blieben, "jeder gegen jeden Krieg führen würde" (Leviathan, 185). Und in diesem "natürlichen" Modus des Überlebens des Stärkeren sind es die Stärksten, die sich durchsetzen.

Ich war weder so dumm noch so betrunken, dass ich nicht gemerkt hätte, dass ich mich ziemlich verletzen würde, wenn ich mich wehren würde. Ich zog mich zurück und ging nach Hause. 

Aber ist es nicht genau das, was wir in der Welt sehen? Erschreckend ist, wenn diese erotischen Leidenschaften für die Macht auf größere, systematische Maßstäbe übertragen werden, wie zum Beispiel bei imperialen Fantasien. Wie Dostojewski und Nietzsche in ihren Werken zeigen, ist das, was als Schein von Ordnung wahrgenommen wird, oft nur die Maske eines gewalttätigen Chaos.

Welche "schönen" Träume und politischen Fantasien haben das Herz von Männern wie Wladimir Putin und seinen Regierungsmitgliedern gefangen genommen?

Abstieg in die Dunkelheit

Die Erotik ohne die Liebe im Bund ist der Weg in eine lebendige Hölle. In diesem prophetischen Roman weist Dostojewski auf die Realität der Hölle und des Chaos in jedem von uns hin. Was ist die "Hölle"? fragt Zosima. Es ist "das Leiden, nicht mehr lieben zu können" (Die Brüder Karamasow, 322).

Man ist so sehr mit dem eigenen egoistischen Verlangen, mit dem eigenen eitlen Auftreten, mit einer unmäßigen, von Gott abstrahierten Leidenschaft für Schönheit beschäftigt, dass man die Fähigkeit verliert, sich um den anderen zu kümmern oder ihn zu lieben.

Die Hölle ist der spirituelle Zustand eines stolzen, nach innen gekehrten Selbst, das sich weigert, sich selbst abzusterben und sich der liebenden Wahrheit von Gottes Schönheit zu öffnen. Es ist unser gottgegebenes Verlangen nach dem Transzendenten, der Schönheit Gottes selbst, das sich nach innen wendet und verdreht.

In den Brüdern Karamasow kämpfte Dmitri zwar mit dieser Erfahrung der Hölle, aber er wurde nicht völlig von ihr verschlungen. Er rang mit ihr, denn die Liebe der "Madonna", die demütige Liebe Christi, war immer noch in ihm. Es war ein geistiger Krieg in ihnen, der einen Kampf in der gesamten Kultur darstellte.

Seine Beichte legt er vor seinem geliebten Bruder Aljoscha ab, der diese demütige Liebe zu Christus verkörpert. Damit knüpft Dostojewski an seine russisch-orthodoxe Tradition an und schafft literarische Kunst, die ikonisch ist und uns hilft, die Schönheit Christi in unserem Geist zu erkennen.

Ikone der Madonna mit dem Christuskind

Für Dostojewski offenbart sich das wahrhaft Schöne im Evangelium Christi, die sich selbst verschenkende Liebe Gottes, die er der Welt durch sein Leiden und seinen Tod geschenkt hat. Im Gegensatz zu Gewalt und dem Willen zu dominieren, lehrt Pater Zosima, "Vor mancher Absicht verharrst due unschlüssig, zumal angesichts des sündhaften Treibens der Menschen, und fragst dicht, 'Braucht es Gewalt oder demütige Liebe?' Entscheide dicht stets: 'Es braucht demütige Liebe.' Has du dich ein für allemal so entschieden, kannst du über die ganze Welt siegen. Die liebende Demut, das ist eine gewaltige Kraft, die gewaltigste von allen, die ihresgleichen nicht hat" (Die Brüder Karamasow, 515).

Das Schönste (und Mächtigste) ist das kostbare Bild der demütigen Liebe Christi, ein Bild, das in das Herz einer jeden Seele gesät wird. Doch auch unser Sinn für moralische Schönheit muss mit Christus gekreuzigt werden, damit er sich zu seiner wahren Erfüllung erheben kann. Es ist dieses versöhnte Bild in uns, das unsere zerbrochene und gewalttätige Welt verwandeln wird.

Lies Teil 3: Ein prekäre Einsamkeit

Zur Serie gehen: Eine Verklärung in der Zeit

Quellen

Dostojewski, Fjodor. Die Brüder Karamasow. In der Übersetzung von Swetlana Geier. Frankfurt: Fischer, 2022.

Hobbes, Thomas. Leviathan. London: Penguin, 1985.

Plato. The Symposium. Translated by W. H. D. Rouse in the Great Dialogues of Plato. New York: Signet Classics, 2008.

Suderman, Alex D. The Sacrament of Desire: The Poetics of Fyodor Dostoevsky and Friedrich Nietzsche in Critical Dialogue with Henri de Lubac. Eugene, OR: Pickwick Publications, 2022.