31.05.2024
Es ist schwierig, den genauen Zeitpunkt zu bestimmen, an dem ich versucht habe, "Gott zu ermorden".
Ich wollte die Vorstellung von Gott unterdrücken, vor allem das Gewissen, das mir eingeimpft wurde. Es waren nicht unbedingt rebellische Handlungen, wie zum Beispiel das erste Mal, als ich mich im Bootshaus eines Freundes total besoffen habe und von Freunden davor bewahrt wurde, ins Wasser zu stürzen. Es schaudert mich, wenn ich daran denke, wie leicht ich mein Leben hätte verlieren können.
Vielleicht geschah der Mord, als ich von Menschen in meiner Gemeinde damit konfrontiert wurde, die versuchten, mich davon abzubringen, diesen Weg weiterzugehen, und ich mich weigerte, auf sie zu hören.
Der wirkliche Tod Gottes kam aber vielleicht durch den Konflikt und die Spannungen, die dadurch mit meinen Eltern entstanden, die über meine Entscheidungen betrübt waren. Sie warnten mich, dass ich mich auf einem Weg der geistigen Zerstörung befand und sogar mit einem ewigen Leben ohne Gott liebäugelte. Sie erinnerten mich daran, was wirklich auf dem Spiel stand.
Die Furcht vor dem ewigen Gericht löste bei mir sowohl Angst als auch Abneigung aus. Sie verhärtete meine Entschlossenheit in meiner neu entdeckten Freiheit, dass ich mein eigener moralischer Souverän bin. Ich musste mich von der psychologischen Last der Schuld befreien. Es stellte sich die Frage nach dem Gewissen, nach Gut und Böse.
Für Nietzsche ist das Gefühl von Schuld und Verschuldung, das der Gläubige Gott gegenüber hat, eines der größten und tiefsten Probleme des Christentums. Wie Zarathustra in einem Abschnitt namens "Über Priester" sagt, "Kirchen heissen sie ihre süssduftenden Höhlen. Oh über dies verfälschte Licht, diese verdumpfte Luft! Hier, wo die Seele zu ihrer Höhe hinauf — nicht fliegen darf!" (Also Sprach Zarathustra, Nietzsche Source)
Sondern also gebietet ihr Glaube: „auf den Knien die Treppe hinan, ihr Sünder!“ Es widerspricht der Vorstellung von unserer wahren materialistischen Natur und vereitelt das Potenzial der Menschheit, sich selbst in neue Richtungen zu entwickeln. Das Konzept der Erbsünde, so Nietzsche, ist eine tiefgreifende Verderbnis, die tief in einem Menschen verankert ist, der im europäischen christlichen Kulturkreis geboren und aufgewachsen ist.
Die Apokalypse der Seele
Um diesen unnatürlichen, ungesunden Glauben an Gott und die darin verankerte Moral auszurotten, stellte sich Nietzsche eine Art apokalyptischen Seelenkrieg vor. In Also sprach Zarathustra stellte er diesen als einen Kampf zwischen einem Löwen und dem Drachen dar, in dem "in der einsamsten Wüste geschieht die zweite Verwandlung: zum Löwen wird hier der Geist, Freiheit will er sich erbeuten und Herr sein in seiner eignen Wüste. Seinen letzten Herrn sucht er sich hier: Feind will er ihm werden und seinem letzten Gotte, um Sieg will er mit dem großen Drachen ringen. (Also Sprach Zarathustra, Nietzsche Source).
Der Löwe steht für einen neuen Kriegergeist, den man annehmen muss, um seine wahre Freiheit zu erlangen und zu gewinnen, um unser wahres natürliches Selbst zu werden. Dies ist ein persönlicher und kultureller Kampf, nicht unbedingt eine politische Revolution. Er findet in der "Wüste" statt, eine Parodie auf Jesus, der dem Teufel in der Versuchung widersteht (Matthäus 4). Der "Drache", den es zu überwinden gilt, steht für die Werte, die uns auferlegt wurden und die wir in unserer westlichen, christlichen Kultur verinnerlicht haben. Es ist ein Kampf gegen den tiefer verankerten Glauben, dass wir nach Gottes Ebenbild geschaffen wurden und daher Gott für die Erfüllung und Erlösung unseres menschlichen Schicksals verpflichtet sind.
Es ist ein Kampf des Willens, das "Ich will" des Löwen gegen das "Du sollst" des Drachens. Dieser Kampf gegen die Werte des Christentums und seiner modernistischen, demokratischen Erben ist ein Kampf um die zukünftige Seele der Menschheit.
Im Gegensatz dazu war es Nietzsches Ziel, eine neue Unschuld zu schaffen, den Übermenschen, der neue Werte für die Gesellschaft schaffen kann. Das wäre die Nietzsche Vision einer "neuen Schöpfung". Dabei geht es nicht um die Rückkehr zu einem ursprünglichen Zustand der Vollkommenheit wie im Garten Eden, sondern darum, etwas - oder eine Art des Seins - zu schaffen, das noch nicht existiert hat. Es ist die Erschaffung des neuen Kindes, das sein eigenes Gut und Böse erschafft, das seinen eigenen Weg und seine eigene Identität schmiedet. Das war seine Vision von der Heilung Europas von der Versklavung durch den Drachen.
Ich wünschte, mein eigener Kampf wäre so bewusst wie der von Nietzsche, aber das ist nicht der Fall. Mein Kampf gegen das, was ich als "Drache" wahrnahm, war ein unbewusstes, chaotisches Durcheinander. Es gab einen Willen in mir, der nach Freiheit schrie. Nietzsche würde es als den "Willen zur Macht" bezeichnen.
Ich erinnere mich, wie ich gegen das "Du sollst" meiner Eltern wütete und mich gegen die Werte wehrte, die man mir aufzwang. Ich war im Hauptgeschoss unseres Hauses wagte mich hinunter in den Keller. Im Treppenhaus hing ein Gemälde, das eine unberührte, domestizierte Natur zeigte und durch einen Glasrahmen geschützt war. Mit meiner Faust schlug ich es in Stücke, so dass die Scherben auf der Treppe verstreut lagen. Ich verließ das Haus im Sturm und wagte mich wieder in die Wildnis, sowohl wirklich als auch im metaphorische Sinne.
Die Natur ringt nach Vollkommenheit
Sicherlich hat Nietzsche Recht, wenn er sagt, dass ein Großteil unserer moralischen (und religiösen) Identität von den Werten der kulturellen Erzählungen geprägt ist, die wir erben und die uns manchmal sogar aufgezwungen werden. Natürlich gibt es auch ungesunde Werte, die als "christlich" wahrgenommen werden und die uns auf gut gemeinte, aber letztlich ungesunde Weise aufgezwungen werden. Seine kritischen Einsichten über das Christentum und die westlichen Werte sind immer noch eine Überlegung wert.
Er hat auch Recht, wenn er auf die Notwendigkeit eines inneren und kulturellen Wandels hinweist, der uns über das hinausführt, was wir sind, oder zumindest zu dem macht, was wir sein könnten. Der Übermensch ist eine Vision der Natur, die in das Reich des "Mythos" übergeht, eine Art Göttlichkeit, die in der Natur verwurzelt ist.
Doch die Natur ohne die Vollendung Gottes ist wie eine Geschichte, die ohne ein echtes Ende, ohne Höhepunkt und ohne Auflösung weitergehen will. Die Geschichte, das Lied, das Drama mag sogar schön sein, aber sie endet im Tragischen. Sie endet nur im Tod, wie Romeo und Julia, die in unerfüllter Liebe tot auf dem Boden liegen.
Es ist sehr nietzscheanisch, die edle Tragödie des Lebens aufrechtzuerhalten, die Selbsterkenntnis, dass es letztlich keine andere Transzendenz gibt, als die, die wir erschaffen. Es ist sehr heldenhaft, wenn wir versuchen, auf unsere eigene menschliche Art moralisch zu sein, obwohl es kein höheres Gesetz, keine höhere Macht oder Gottheit gibt, die uns inspirieren könnte. Aber am Ende gibt es trotzdem nichts.
Die Tatsache, dass Menschen immer noch ein Gewissen haben, gibt mir Hoffnung und zeugt für mich von einer größeren transzendenten Wirklichkeit, die in uns verborgen ist. Selbst Nietzsche zeigt auf eine seltsame Art und Weise die göttlich eingepflanzte Sehnsucht nach Gott, nach dem Transzendenten, nach etwas, das ewig ist. Die Frage ist, wie das eigentlich aussieht. Wie kann man die Vollendung seines natürlichen Selbst erreichen?
Die Metaphysik der Wiedergeburt
Letztendlich verbinde ich mehr mit dem Russen Fjodor Dostojewski aus dem 19. Jahrhundert als mit Nietzsche. Dostojewski schrieb im Schatten des "Gott ist Tod". Auch er konnte sich nicht völlig von der Realität Gottes befreien und sah, dass die Natur durch spirituelle Wiedergeburt und Verwandlung vollendet werden muss.
Von den Behörden des kaiserlichen Russlands als Sozialist beschuldigt, wurde er in ein Gefängnis in Sibirien gesteckt und musste eine Scheinhinrichtung miterleben. Im Gefängnis entdeckte Dostojewski durch die Lektüre des Johannes-Evangeliums Christus. Dieser Einfluss zeigt sich in einem seiner größten Romane, Die Brüder Karamasow.
In dem Roman geht eine wichtige Figur, Vater Zosima, davon aus, dass in unserer Natur etwas eingepflanzt ist, das mit "anderen Welten" in Verbindung steht. In seiner Lehre legt Zosima nahe, dass "Vieles auf Erden ist uns verborgen, dafür aber ist uns im Inneren ein geheimes Gefühl unserer lebendigen Verbindung mit einer anderen Welt gegeben, einer höheren und erhabeneren Welt, und auch unsere Gedanken und Gefühle habe ihre Wurzeln nicht hier, sondern in anderen Welten” (Die Brüder Karamasow, 517). Das heißt, als Menschen sind wir von "Natur aus" Körper, Seele und Geist.
Das Problem ist, dass wir in der modernen Welt den höheren Aspekt unseres Menschseins unterdrückt haben und nur die Existenz des materialistischen und sozialen (und politischen) Teils angenommen haben. Wir haben die Lüge geglaubt, dass unsere Freiheit darin besteht, von der "höheren himmlischen Welt" isoliert zu bleiben. Wir sind wie ein Samenkorn, das in der Erde vergraben ist, sich aber weigert, zu sterben und Früchte zu tragen, und es vorzieht, ein Samenkorn zu bleiben.
Durch meinen eigenen Widerstand gegen Gott und die Unterdrückung meines Gewissens wurde mein Innenleben aus den Angeln gehoben. Ein Samenkorn, das sich weigert, zu sterben. Ich begann, mich nicht nur den Eltern, sondern auch Lehrern, und anderen Autoritätspersonen zu widersetzen. Indem ich mich dem widersetzte, was ich für den Drachen hielt, wurde ich selbst zu einer Art Drache. Ich rebellierte gegen meine wahre Natur.
Dennoch gab es etwas in mir, das "Gott" nicht abschütteln konnte. Er konnte nicht getötet werden. Selbst wenn ich ihn in der Erde vergraben würde. Er würde einfach wieder hervorkommen.
Im Johannesevangelium sagt Jesus zu Nikodemus, dass man nicht in das Reich Gottes kommen kann, wenn man nicht "von neuem geboren" wird (Johannes 3,3). Jesus fährt fort: "Fleisch gebiert Fleisch, Geist gebiert Geist" (Johannes 3,6). Beide sind für das Leben notwendig. Unser Leben im Fleisch ist mit dem Leben Gottes vereinbar, aber diese Vollendung braucht eine Wiedergeburt.
Das geschieht, wenn der Geist uns im Körper verwandelt. Das ist der Grund, warum Gott im Fleisch gekommen ist, warum Jesus am Kreuz gelitten hat und warum Gott Christus von den Toten auferweckt hat. So wird unsere Natur, auch wenn sie Ausdruck des "Willens zur Macht" ist, in etwas Neues verwandelt. So wird das Tragische in Freude verwandelt.
Die Annahme, dass wir eine geistliche Wiedergeburt brauchen, bedeutet jedoch nicht, dass unsere natürliche Geburt an sich böse ist oder dass wir sie ablehnen sollten. Das Leben im Körper ist kein Fluch, sondern ein Geschenk. Ich wurde im Schoß meiner Mutter erschaffen, und das war, wie der Autor der Genesis sagt, "sehr gut". Aber die Vollendung unserer Natur - unsere Versöhnung mit einem persönlichen Gott - beginnt mit dem Bekenntnis: zu unserem Bedürfnis nach Gott, zu unserem Bedürfnis nach Wiedergeburt. Sind wir dafür offen?
Lies Teil 3: Das Rätsel der Schönheit.
Zur Serie gehen: Eine Verklärung in der Zeit
Quellen
Dostojewski, Fjodor. Die Brüder Karamasow. In der Übersetzung von Swetlana Geier. Frankfurt: Fischer, 2022.
Nietzsche, Friedrich. Also Sprach Zarathustra und Zur Genealogie der Moral. Basierend auf dem kritischen Text von G. Colli und M. Montinari, Berlin/New York, de Gruyter 1967, herausgegeben von Paolo D'Iorio: nietzschesource.org
Suderman, Alex D. The Sacrament of Desire: The Poetics of Fyodor Dostoevsky and Friedrich Nietzsche in Critical Dialogue with Henri de Lubac. Eugene, OR: Pickwick Publications, 2022.